Erschienen in WOHLFAHRT INTERN (Ausgabe 05/2019)

Herr Dunand, wie begegnen Sie als Geschäftsführer eines sozialen Vereins in der Kinder- und Jugendhilfe den Herausforderungen, die sich aus dem Wandel der Sozialwirtschaft ergeben? Welche Aspekte spielen hier die größte Rolle?

 „Gemeinsam mit meinen MitarbeiterInnen begleite ich seit 2014 die digitale Transformation der Betriebsabläufe in unserem Verein und verantworte deren Umsetzung. Zuvor war in den letzten Jahren der Verwaltungsaufwand durch extern auferlegte Anforderungen an die Dokumentation, und Qualitätssicherung sowie Abrechnung immens angestiegen. Dies führte zu einer dramatischen Verknappung der Fachleistungszeit mit unseren Klienten bei einem Anstieg des administrativen Arbeitszeitanteils unserer Fachkräfte, d. h. den händeringend gesuchten Sozialarbeitern, -pädagogen und -psychologen. Wir mussten daher einen Weg finden, wieder effektiv und effizient zu werden. Anders gesagt: Wie schaffen wir dennoch mehr Sozialarbeit am Menschen bei geringstmöglichem Verwaltungsaufwand?  Das hat auch mit der um sich greifenden Ökonomisierung, der divergierenden Kosten-Erlös-Schere und – unabhängig von dem Kostendruck der Branche – ganz grundsätzlich mit der Frage, wie man ein erfolgreiches Unternehmen führt, zu tun. Wir sind jetzt jedenfalls im Hinblick auf unsere wichtigsten und aufwändigen Kern- und Unterstützungsprozesse digitalisiert und haben viel mehr Zeit für die Arbeit am Klienten.“

Was berichten Ihnen die Teilnehmer und Entscheider aus der sozialwirtschaftlichen Praxis, die an Ihren Workshops zur Prozessoptimierung und Digitalisierung teilnehmen? Was sind deren größte Probleme mit dem Thema in der täglichen Arbeit? 

 „Die Verantwortlichen berichten mir vor allem, dass die Digitalisierung für sie wenig konkret oder greifbar sei und sie nicht wüssten, wo sie anfangen sollen. Hinzu kommt: Digitalisierung bedeutet für alle etwas Anderes, für die einen liegt der Schwerpunkt auf der Kommunikation, für die anderen ist es die IT, für wieder andere bedeutet sie ein unaufhaltsamer gesellschaftlicher Wandel auf der Makroebene der Unternehmensumwelt. Kaum ein Schlagwort deutet so viel an und transportiert zugleich so wenig Konkretes. Viele haben das Gefühl, dass sie von außen gedrängt werden, etwas verändern zu müssen. Dann wird schnell klar, dass dies auch mit Kosten verbunden ist. Unter diesem wahrgenommenen Druck der Veränderung setzt oftmals Aktionismus ein und es kommt in Folge zu überhasteten und nicht nachhaltigen Maßnahmen: Verantwortliche wissen leider oft nicht, was die passende Lösung für Ihr Unternehmen ist, da sie meistens zu Beginn schon nicht die rechten Fragen stellen bzw. Ihr Problem umreißen oder benennen können. Da passiert es schnell, dass sie veraltete IT und Software kaufen, die dann wenig oder gar nicht genutzt wird, auch weil die Nutzer, d. h. Mitarbeiter auch nicht überzeugt und „mitgenommen“ werden. Oft sind es auch die Kostenträger, die plötzlich auf einer veränderten Datenübermittlung bestehen. So etwas kann auch Auslöser für eine erforderliche Prozessanpassung sein, bietet aber auch die Gelegenheit, Prozesse schlank und digital abzubilden und so die eigene soziale Wertschöpfung zu erhöhen.“ 

Mit welchem Ziel sind Ihre Workshops und Seminare aufgebaut? Was erwartet die Teilnehmenden?

„Im Workshop als Teil des Paritätischen Digitalforums geht es zunächst einmal darum, die eigenen Arbeitsprozesse, d. h. Betriebsabläufe, zu identifizieren, benennen und systematisch im Gesamtzusammenhang deren Aufwand, Nutzen und Gewichtung abzubilden. Geschäftsführer sollten sich die Frage stellen, wie sie Prozesse schlanker, fehlerunanfälliger und vor allem für alle Beteiligten angemessen gestalten; erst auf der Grundlage derart optimierter Prozesse können Digitalisierungslösungen, etwa Software und IT, ihr volles Wirkungspotenzial entfalten.“ 

Was unterscheidet die Sozialwirtschaft im Kontext digitaler Transformation, Prozessverbesserungen und IT-Investitionsstau von anderen Branchen? Gibt es so etwas wie ein sozialwirtschaftliches “Mindset” der Akteure?

 „Der IT-Investitionsstau in der Sozialwirtschaft liegt im Besonderen darin, dass der Fokus in der alltäglichen Arbeit auf den Menschen liegt. Für diese geben die abertausenden KollegInnen bundesweit und trägerübergreifend einfach alles. Oftmals haben sie angesichts der Leistungsverdichtung schlichtweg auch weder Ressourcen noch die Zeit zu besprechen, wo Anpassungsbedarf in der betrieblichen Praxis bestehe. Auch die Kostenfrage ist problembehaftet: Projektzuwendungen vernachlässigen systematisch erforderliche IT und Software. Auch die Gewohnheit behindert notwendige Veränderung: Das Mantra „Wir haben das immer schon so gemacht.“ Ist gewiss nicht das angemessene Mindset. Da sind über Jahre und Jahrzehnte hinweg betriebliche Prozesse gewachsen und gefestigt worden, die schwer umzustoßen sind. Es verwundert, dass die Nachfrage nach Digitalisierungslösungen noch nicht so marktrelevant zu sein scheint. Sozialunternehmen wie Pflegeheime oder Krankenhäuser erbringen wichtige Fachkräfte bindende Leistungen bei oft hoher Auslastung. Zu meinem Erstaunen tun sich viele Entscheider jedoch schwer, die knappen Fachkräfte, um die ja heftig auf dem Arbeitsmarkt gerungen wird, effizienter und damit auch die eigene Arbeitgeberattraktivität erhöhend, einzusetzen. Ich erkläre mir das damit, dass das Bewusstsein für die Möglichkeiten der Digitalisierung einfach noch nicht überall in der Sozialwirtschaft angekommen ist. Die Hürde die richtige IT auszuwählen und zu verwenden braucht gezielte Fortbildung und den Mut aller Beteiligten Neues zu wagen. Ich leiste meinen kleinen Beitrag mit Workshops und Seminaren als Teil des Paritätischen Digitalforums, hier aufzuklären und Perspektiven zu entwickeln.“ 

Gibt es praktische oder vermeintliche Grenzen der Optimierung und digitalen Transformation, vor allem für die Sozialwirtschaft?

„Eine Vielzahl betrieblicher Prozesse sind digitalisierbar und werden in Zukunft angesichts des skizzierten Fachkräftemangels und Kostendrucks auch digitalisiert werden. Dies kommt dem jeweiligen Unternehmen, aber auch seinen Kunden und Klienten, in vielerlei Hinsicht zugute: Mit optimierten und den Bedarfen entsprechenden Prozessen steigen die betriebliche Effizienz und zugleich der Kundennutzen. Allerdings erfordert dies auch eine konsequente Ausrichtung an den Menschen, und ihren Bedürfnissen d. h. sowohl an den betrieblichen NutzerInnen und MitarbeiterInnen als auch den KundInnen bzw. KlientInnen als Zielgruppe des Trägers. Viele Menschen verspüren dabei eine diffuse Angst der Entmenschlichung ihrer Arbeit, insbesondere in der Sozialwirtschaft. Da Angst aber gewiss kein guter Berater ist, empfehle ich, wenn nötig unter Hinzuziehung externer Expertise, mit den MitarbeiterInnen den praktischen Nutzen durch Mittel und Maßnahmen der Digitalisierung für ihre Arbeit abzuschätzen und zu bewerten. Limitiert ist dieses Wirkungspotenzial naturgemäß dann, wenn die Digitalisierung KlientInnen oder MitarbeiterInnen etwa über zu hohes Umsetzungstempo oder fehlendes kollaboratives resp. partizipativ gestaltetes Change Management überfordert. Handwerklich sauber konzipiert und den Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtung gesetzt, geht es bei Digitalisierungsvorhaben jedoch um die Arbeitsentlastung der MitarbeiterInnen von administrativen Unterstützungsprozessen und somit einen höheren relativen Facharbeitsanteil und somit Wertbeitrag der sozialen Arbeit.“

Wie stehen SIe zur Einführung innovativer technischer Hilfsmittel?

 „Neue technische Hilfsmittel, Soft- und Hardware bzw. innovative IT-Ressourcen eröffnen den Betrieben ganz neue Formen des (Zusammen-)Arbeitens. Wo man sich vorher im Team treffen musste, gibt es jetzt zusätzlich die Möglichkeit interner Chats oder E-Mails. Selbstverständlich kommt es hier aber auch darauf an, das dem jeweiligen Zweck angemessene Medium kontextsensitiv zu verwenden. Auch hier geht es um Entlastung und Arbeit 4.0.“

Wie sieht Ihrer Meinung nach eine erfolgreiche und daher nachhaltige Kommunikationsstrategie aus, die die unterschiedlichsten Austauschbeziehungen eines sozialen Unternehmens mit allen relevanten Beteiligten berücksichtigt?

„Verantwortlichen rate ich, ihre Kommunikation und Interaktionen analytisch in drei Ebenen zu unterteilen. Die erste Ebene sind die internen Unternehmensprozesse. Die zweite Ebene besteht aus der Arbeit mit dem Klienten und den mannigfaltigen Austauschbeziehungen. Hier sehe ich spannende neue digital unterstützte Kommunikationsansätze, die den Klienten wieder stärker in die Lage eines emanzipieren Akteurs versetzen, beispielsweise bei der DSGVO-konformen Chat-Kommunikation zwischen den Beratungsterminen. Die dritte Ebene ist das große Thema Außenkommunikation und Social Media. Führungskräfte wechseln aufgrund ihrer vielen kommunikativen Beziehungen häufig zwischen diesen drei Ebenen. Wichtig für eine erfolgreiche Kommunikationsstrategie ist es daher, diese Ebenen möglichst ohne Medienbrüche zu verknüpfen. Es bringt beispielsweise nichts, wenn ein Unternehmen eine Facebook-Seite hat, wenn der Klient dann aber anruft, wird seine Anfrage per Papier erfasst. Es gibt häufig gute Ideen und Ansätze, aber die Ebenen sollte man sinnvoll und wo möglich miteinander verknüpfen.“

Zum Abschluss unseres Gesprächs bitte ich Sie um einen Tipp, wie soziale Unternehmen einen Einstieg in die eigene Digitalisierung finden.

 „Um Digitalisierung erfolgreich zu gestalten, sollten Führungskräfte zunächst ihre Prozesslandschaft vermessen und bewerten. Eine solche Prozessanalyse offenbart die essenziellen wertschöpfenden Kernprozesse und die Fach – bzw. Kernleistungs-fremden Unterstützungsprozesse. Hat man diese identifiziert, ist man schon einen großen Schritt weiter, von wo man aus in an die konkrete Prozessmodellierung bzw – optimierung, gehen kann. So lässt sich – ganz analog – per Hand auf einen Flipchart aufmalen, wie ein bestehendes und dann ein besseres System ablaufen könnte. Wie müsste beispielsweise eine schnellere, einfachere und fehlerunanfälligere Abrechnung von Stundenzetteln ablaufen und ein angepasstes Formular beschaffen sein? Das zeigt, dass Digitalisierung -nicht ganz ironiefrei- mit Papier und Stift beginnt, solide Prozesse bedingt und erst auf dieser Grundlage Nutzerakzeptanz und höchstes Wirkungspotenzial entfaltet.“

Als Artikel erschienen in WOHLFAHRT INTERN (Ausgabe 05/2019): https://www.wohlfahrtintern.de/heft/newsdetails/article/schritt-fuer-schritt/

Falls Sie dieses Interview inspiriert hat und Sie nun Ihr soziales Unternehmen fit im Bereich Prozesse und Digitalisierung machen wollen:

Joël Dunand bietet als erfahrener Gestalter der sozialwirtschaftlichen Prozessoptimierung und Digitalisierung Seminare und Workshops im Digitalforum des Paritätischen Landesverbandes Berlin an.

Das Paritätische Digitalforum ist ein Weiterbildungsangebot des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin im Bereich Digitalisierung, das Mitgliedsorganisationen des Paritätischen Berlin zur Qualifizierung dient. Grundsätzlich stehen die Veranstaltungen auch Nichtmitgliedern offen.Das Spektrum an Fortbildungen umfasst u. a. Angebote im Bereich Prozessdigitalisierung, Führung in der Digitalen Transformation, agiles Projektmanagement, Social Media und Online-Marketing sowie technische Rahmenbedingungen.
Alle Angebote stehen auch als Inhouse-Veranstaltungen zur Verfügung.

Für eine passgenaue Konzeption der Weiterbildung Ihrer Mitarbeitenden wenden Sie sich bitte an:

Herrn Cengizhan Yüksel,
Bildungsreferent Paritätisches Digitalforum

Tel: 030-275 8282 15/ 0162-202 86 11
Mail: c.yueksel@akademie.org

Postanschrift:

Paritätisches Digitalforum
c/o Paritätische Akademie Berlin gGmbH
Tucholskystr.11

10117 Berlin